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Wenn wir uns umschauen, um einen Blick in die ferne Vergangenheit zu werfen, lässt sie sich kaum noch erkennen, so unsichtbar ist sie bereits geworden.
Marcel Proust,
antiker Autor von der Erde
Vorian stand in seinem nominellen Büro im Hauptquartier der Armee der Menschheit und blickte durch das offene Fenster in den Abendregen hinaus. Die kühle Feuchtigkeit auf seinem Gesicht fühlte sich gut an, nachdem es die ganze vergangene Woche lang heiß und schwül in Zimia gewesen war. Der Regen war eine angenehme Erleichterung, aber er genügte nicht, die Stimmung des Höchsten Bashar zu heben.
Jeden Tag schien er den Kampf gegen die bürokratische Stagnation und Lethargie zu verlieren. Die Regierung war einfach nicht in der Lage, schwierige Entscheidungen zu treffen. Die Abgeordneten der Liga schraken davor zurück, die nötige Schmutzarbeit zu Ende zu bringen, und mit jedem Jahr, das verging, schwand das Problem aus ihrem Bewusstsein. Sie vertieften sich in Lokalpolitik und alltägliche Probleme und redeten sich ein, dass sich die Gefährdung durch Omnius und die Cymeks irgendwann von selbst verflüchtigen würde. Er konnte sie einfach nicht davon überzeugen, dass Agamemnons Schreckensherrschaft noch lange nicht zu Ende war, auch wenn sich die Titanen seit Jahren ruhig verhalten hatten.
Sein langer Krieg war vorbei. Nach der Großen Säuberung war Quentin Butler nicht der einzige militärische Führer gewesen, der sich in eine lange Zeit des Friedens flüchten wollte. Es war zu einfach gewesen, dem Wiederaufbau die höchste Priorität zuzuweisen. Viele Menschen wollten den gesamten Djihad in die Geschichte abschieben.
Aber er war noch nicht vorbei. Nicht, solange Corrin und die Cymeks sehr reale Bedrohungen für die Sicherheit der Menschheit darstellten. Leider schien Vorian der Einzige zu sein, der es so sah. Die Liga weigerte sich, eine Angriffsflotte oder auch nur ein paar Erkundungsschiffe nach Hessra zu entsenden, wo die letzten Titanen sich verschanzt hatten. Selbstgefällige Narren!
Der Große Patriarch und die Aristokraten richteten ihre Energie auf die internen ökonomischen Probleme, die mit der Ausweitung ihrer Verwaltung auf die Unverbündeten Planeten zusammenhingen. Sie wollten ein größeres Imperium mit fester, zentraler Kontrolle über alle Welten schaffen. Der Große Patriarch hatte seiner prächtigen Amtskette ein paar neue klirrende Glieder hinzugefügt.
Die eroberten Synchronisierten Welten würden noch auf Jahrhunderte unbewohnbar bleiben, aber einige der etwas aggressiver eingestellten Liga-Welten betrachteten die Unverbündeten Planeten als reife Früchte, die nur gepflückt werden mussten. In der gesamten Liga war die Nachfrage nach Melange mit dem Ende der Seuche keineswegs zurückgegangen. Programme zur Wiederbevölkerung waren schon vor Jahren unter der Leitung der Höchsten Zauberin Ticia Cevna in Kraft getreten.
Die öffentlichen Bauvorhaben benötigten menschliche Arbeitskräfte, nachdem höher entwickelte computerisierte nun mit einem Bann belegt waren. Und das lief auf den Einsatz von Arbeitssklaven hinaus, die hauptsächlich von zurückgebliebenen buddhislamischen Planeten stammten. In der Liga hatte es ein paar Proteste gegeben, dass andere Menschen »genauso wie unter den Maschinen versklavt« wurden, aber diese Position erhielt nur wenig Unterstützung.
Da seine militärischen Pflichten durch Verwaltungsaufgaben, öffentliche Ansprachen und Auftritten bei Paraden ersetzt worden waren, hatte sich Vorian schon seit längerem darauf verlegt, auf Parmentier die Suche nach seiner Enkeltochter Raquella fortzusetzen. Und nach sechs Monaten hatte er sie endlich gefunden.
Nach der Flucht aus der Klinik für Unheilbare Erkrankungen hatten sie und Mohandas Suk sich in einem abgelegenen Dorf niedergelassen, in dem hauptsächlich die Vertreter einer isolierten Gruppe lebten, die der unvorstellbar alten Religion des Judentums angehörten. Raquella hatte auch dort Seuchenopfern geholfen und den Dorfbewohnern medizinische Hilfe geleistet, bis ein paranoider Pöbel, der noch älteren Vorurteilen anhing, die Siedlung überfallen und niedergebrannt hatte, weil er den Juden genauso wie den Denkmaschinen die Schuld an der Epidemie gab.
Also waren sie und Mohandas erneut weitergezogen und hatten ihre Arbeit fortgesetzt, begleitet von einigen jüdischen Dorfbewohnern, die sich neue Identitäten zugelegt hatten. Es würde noch viele Jahre dauern, bis sich Parmentier vollständig von der Epidemie erholt hatte.
Als Vorian sie wiedergefunden hatte, arbeitete sie unter primitivsten Bedingungen. Der größte Teil ihrer medizinischen Ausrüstung war zerstört, sodass Vorian ihr großzügig alles schickte, was sie benötigte, nicht nur Material, sondern auch Wachen, die für ihre Sicherheit sorgen sollten. Kurz danach rekrutierte er Raquella und Mohandas, um beim Aufbau des HUMED zu helfen, des Humanitären Medizinischen Dienstes, die den alten Medizinischen Dienst des Djihad ablöste. Dann kaufte er mit seinem Privatvermögen ein Lazarettraumschiff für sie. Damit konnten Raquella und ihre Kollegen in der ganzen Galaxis herumreisen und ihre wichtige Arbeit mit größerer Effizienz erledigen. Die Welten der Liga mussten sorgfältig beobachtet werden, falls die Seuche irgendwo von Neuem ausbrach, was selbst nach der langen Zeit immer noch geschehen konnte ...
Jemand musste auf der Hut sein.
Nicht alle Unternehmungen der Liga dienten dem Wohl der Bürger. Auf dem großen Platz von Zimia lag im Scheinwerferlicht die im Bau befindliche pompöse Kathedrale der Serena, eins der vielen Projekte, die Rayna Butler und ihre Anhänger in den letzten Jahren im Parlament durchgesetzt hatten. Nach der Fertigstellung würde es das größte und kostspieligste religiöse Bauwerk sein, das jemals errichtet worden war. Vorian verehrte und liebte Serena – die wirkliche Serena – mehr als irgendeinen anderen lebenden Menschen, aber er fand, dass der Aufwand an Mühe und Geld an anderen Stellen sinnvoller gewesen wäre.
Der Serena-Kult war viel zu schnell gewachsen und obendrein aus den falschen Gründen. Rayna verfolgte unerschütterlich das Ziel ihres Kreuzzuges gegen die Maschinen, doch viele ihrer Anhänger schienen mehr daran interessiert zu sein, die blasse junge Frau für den Aufbau einer persönlichen Machtstellung zu benutzen. Er konnte es deutlich erkennen, während es offenbar sonst niemandem auffiel.
Niemand wollte zuhören, wenn Vorian, der »alte Kriegstreiber«, auf offensichtliche Probleme hinwies.
Er stieß einen tiefen, verzweifelten Seufzer aus. Die politischen und militärischen Führer verfolgten ihre eigene Tagesordnung und drängten den Höchsten Bashar aus dem Entscheidungsfindungsprozess. Sein Dienstgrad war eher zeremonieller als funktioneller Natur. Obwohl Vorian immer noch wie ein junger Mann aussah, hatte sogar Faykan Butler vorgeschlagen, dass er in den wohlverdienten Ruhestand ging. Vorian würde nicht im ruhmreichen Gefecht den Heldentod sterben, wie es mit Xavier Harkonnen geschehen war. Ihm stand ein viel härteres Schicksal bevor. Vorian Atreides würde einfach in die Bedeutungslosigkeit versinken.
Jeden Tag, wenn er früh aufstand und in der Stadt seinen Angelegenheiten nachging, kehrten Vorians Gedanken zurück zu schönen Augenblicken und persönlichen Krisen, die er erlebt hatte. Mit Serena, mit Leronica ... sogar mit Seurat, den er einst als alten Blechgeist bezeichnet hatte.
Er hasste es, nichts bewirken zu können.
Vorian zählte einhundertfünfunddreißig Jahre, aber er fühlte sich noch viel älter. Wenn er seine täglichen Pflichten im Hauptquartier der Armee der Menschheit erledigt hatte, gab es niemanden mehr, der zu Hause auf ihn wartete. Seine Söhne waren inzwischen alte Männer mit eigenen großen Familien, die allesamt auf dem weit entfernten Caladan lebten.
Außerdem vermisste Vorian seinen früheren Adjutanten Abulurd Harkonnen, der in ihm einen Mentor und eine Vaterfigur gesehen hatte – in viel stärkerem Ausmaß, als Estes oder Kagin es jemals getan hatten. Doch Abulurd hatte das vergangene Jahr im Corrin-System verbracht und Omnius in Schach gehalten.
Als hätten diese Gedanken seinen Schützling materialisieren lassen, sah Vorian plötzlich, wie Abulurd mit zielstrebigen Schritten über die Straße auf das militärische Hauptquartier zuging. Seine Uniform war zerknittert, und er war ohne Eskorte unterwegs, während er im Nieselregen den Kopf einzog. Seine Haltung vermittelte, dass er etwas Dringendes zu erledigen hatte.
Obwohl Vorian nur halb überzeugt war, dass er Abulurds Erscheinen nicht halluziniert hatte, eilte er den Korridor entlang, nahm zwei Treppenstufen auf einmal und hastete zur Tür. Der andere Mann fuhr erschrocken herum, als er gerade eintreten wollte. »Abulurd, du bist es wirklich!«
Der jüngere Offizier sackte in sich zusammen, als hätte er seine letzten Kraftreserven damit verbracht, sich bis hierher zu schleppen. »Ich bin direkt von Corrin gekommen, Sir. Ich habe ein Faltraumschiff genommen, weil ich vor den Maschinen hier sein musste. Aber ich weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt.«
Obwohl Vorian und Abulurd die Angelegenheit mit ähnlicher Dringlichkeit betrachteten, fanden die übrigen Mitglieder des Parlaments, dass sie die Krise eindeutig übertrieben darstellten.
»Wie können die Denkmaschinen nach so vielen Jahren hoffen, etwas mit einer solchen Aktion zu erreichen? Sie sind doch besiegt!«, rief der Repräsentant von Giedi Primus.
»Und wenn diese automatischen Raketen durch das Störfeld geflogen sind, müssten doch alle ihre Gelschaltkreise ausgelöscht worden sein. Also gibt es nichts, was wir zu befürchten haben.« Der arrogante Botschafter von Honru lehnte sich mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck zurück.
»Es gibt immer etwas, das wir zu befürchten haben – solange auch nur eine Inkarnation von Omnius übrig ist.« Vorian verstand nicht, warum diese Leute so großes Selbstvertrauen hatten. Aber letztlich überraschte ihn ihre Haltung nicht. Jedes Mal, wenn sie vor einem schwierigen Problem standen, diskutierten die Abgeordneten so lange darüber, bis alles schwammig und unklar geworden war.
Nach Abulurds Rückkehr verbrachte Vorian die ganze folgende Woche damit, Treffen zu organisieren und mit anderen Befehlshabern zu sprechen. Abulurd überreichte die Aufzeichnungen der Wachhundflotte, auf denen die seltsamen Projektile zu sehen waren. Schließlich bestand der Höchste Bashar darauf, persönlich zum Parlament zu sprechen. Je nachdem, wie hoch die Beschleunigungsrate und der Treibstoffvorrat war, konnten die superschnellen Raketen seinen Berechnungen zufolge jeden Tag über Salusa Secundus eintreffen.
»Könnte es sein, dass Sie das Ausmaß der Gefahr übertreiben, um die Bevölkerung aufzurütteln und die Armee der Menschheit zu stärken, Höchster Bashar?«, fragte ein hagerer Vertreter von Ix. »Wir alle haben von Ihren Kriegsabenteuern gehört.«
»Seien Sie dankbar, dass Sie diese Abenteuer nicht selber erleben mussten«, brummte Vorian.
Der Mann von Ix runzelte die Stirn. »Ich bin während der Seuche aufgewachsen, Höchster Bashar. Nicht jeder von uns verfügt über so viel Erfahrung auf dem Schlachtfeld wie Sie, aber trotzdem wissen auch wir, was harte Zeiten sind.«
»Warum sollen wir Phantomen hinterherjagen?«, warf ein anderer Mann ein, den Vorian nicht kannte. »Schicken wir einfach ein paar Erkundungsschiffe an den Rand des Systems, wo sie die Projektile abfangen, bevor sie Salusa erreichen können – falls sie überhaupt jemals erscheinen. So hat Quentin Butler auch die Projektile mit dem Seuchen-Virus abgewehrt.«
Auf diese Weise ging die Sitzung noch den größten Teil des Vormittags weiter. Schließlich hatte Vorian genug von den leeren Phrasen unter der großen goldenen Kuppel des Parlamentssaals und flüchtete sich nach draußen. Er blieb am oberen Ende der Steinstufen stehen, blickte zum bewölkten Himmel hinauf und seufzte schwer.
»Alles in Ordnung, Sir?« Abulurd kam zwischen den kunstvoll gearbeiteten Säulen hervor und trat zu ihm.
»Immer die gleichen Dummschwätzer. Die Gesetzgeber haben vergessen, wie sie mit Problemen umgehen müssen, die sich nicht um landwirtschaftliche Erträge, Vorschriften für die Raumfahrt, Subventionen für den Wiederaufbau oder öffentliche Bauprojekte drehen. Jetzt verstehe ich endlich, warum Iblis Ginjo während des Krieges den Djihad-Rat ins Leben gerufen hat. Die Menschen haben sich über seine diktatorische Macht beklagt, aber zumindest war dieses Gremium in der Lage, schnelle und sinnvolle Entscheidungen zu treffen.« Er schüttelte den Kopf. »Die größten Feinde der Menschheit scheinen inzwischen die Selbstgefälligkeit und die Bürokratie zu sein.«
»Wir haben keine lange Aufmerksamkeitsspanne mehr für langfristige Gefahren oder Pläne«, warf Abulurd ein. »Unsere Gesellschaft konzentriert sich so sehr darauf, zur Normalität zurückzukehren – als könnte sich noch irgendjemand erinnern, wie dieser Zustand aussieht –, dass sie sich nicht auf eine Gefahr konzentrieren kann, zumal sie annimmt, dass sie längst zu den Akten gelegt wurde.«
Der Regen setzte wieder ein, heftiger als zuvor, aber der Veteran rührte sich nicht von der Stelle. Abulurd besorgte einen Suspensorschirm und ließ ihn über Vorians Kopf schweben, damit er vor der Nässe geschützt war. Vorian lächelte ihm zu, aber der Bator blieb besorgt.
»Was wollen wir in dieser Sache unternehmen, Sir? Die Raketen sind unterwegs.« Bevor er antworten konnte, riss ein Windstoß den Suspensorschirm weg, und Abulurd jagte ihm über die Steintreppe hinterher.
Die beiden Männer wollten gerade ins Parlamentsgebäude zurückkehren, als Abulurd, der den Suspensorschirm wieder eingefangen hatte, in die Ferne zeigte. Der Schirm riss sich erneut los, doch diesmal machte er sich nicht auf die Jagd.
Wie die blutigen Spuren der Krallen eines Raubtiers zogen sich plötzlich silbern-orangefarbene Streifen über den Himmel. »Schauen Sie – die Raketen von Corrin!« Abulurd stöhnte und empfang gleichermaßen Beschämung wie Besorgnis, weil er nicht in der Lage gewesen war, jemandem seine eindringliche Warnung zu vermitteln.
Vorian biss die Zähne zusammen. »Die Armee der Menschheit glaubt ihre eigene Propaganda. Die Menschen gehen davon aus, dass unsere Feinde nichts mehr gegen uns unternehmen werden, einfach, weil wir das Ende des Djihad erklärt haben.«
Er atmete einmal tief durch und erinnerte sich nur allzu lebhaft daran, wie es war, auf dem Schlachtfeld Kommandos zu erteilen. »Wie es aussieht, brauche ich jetzt jemanden, der mir hilft«, sagte er zu Abulurd. »Uns beide erwartet eine Menge Arbeit.«